Hallo zusammen!
Gerade ist hier vieles im Umbruch. Die allgemeine Sicherheitslage in der Region verschärft sich von Tag für Tag. Der Abstand von Luftalarm zu Luftalarm wird immer geringer. Die Menschen hier sind deutlich vorsichtiger geworden, einige müssen sich nun ernsthaft Gedanken machen, ihre Heimat hinter sich zu lassen, solange das noch geht. Ich habe vielen Angeboten, sie zur europäischen Grenze zu bringen, da es kaum genügend Transportmittel gibt, alle hier aus Lviv, die weiter wollen, zu evakuieren. Jedoch, sind viele so eingestellt, dass sie lieber zu Hause sterben möchten, als ihre Heimat wegen der Russen verlassen zu müssen. Oft werde ich von Fussstreifen angehalten und muss mich ausweisen. Man hat Angst, dass russische Terroristen kommen und von innen sabotieren. Das Chaos wird immer größer. Die Stadt platzt aus allen Nähten, weil so viele Flüchtlinge ankommen und es wenig Möglichkeiten gibt, weiter zu kommen.
Die Arbeit im Verteilzentrum hat sich auch verändert. Es kommen immer mehr Helfer und es werden in wenigen Tagen 29 weitere Verteilzentren gegründet. Auch wird die Arbeit immer organisierter und ich habe das Gefühl, dass meine Unterstützung dort nicht mehr so dringend gebraucht wird, wie noch in den letzten Tagen. Ich hoffe, bald einen neuen Ort zum Helfen zu finden.
Nach einem langen Luftalarm in der Nacht trinke ich ein Glas Leitungswasser und lege mich schlafen. Am nächsten Morgen erfahre ich, dass nicht weit entfernt 34 Menschen bei einem Raketenangriff gestorben sind und 137 Menschen schwer verletzt wurden.
Ich dachte erst, das hätte mir so sehr auf den Magen geschlagen, doch dann fällt mir ein, dass das Wasser in der Leitung hier ungenießbar ist und mir mir dem Glas in der Nacht wohl eine Lebensmittelvergiftung zugezogen habe. Ich bekomme hohes Fieber und bin so schwach, dass ich mich im Bett kaum drehen kann. Nach jedem Gang zur Toilette brauche ich zwei Stunden Schlaf, um mich davon zu erholen.
Doch habe ich Glück, schon am Abend geht es mir wieder deutlich besser und am nächsten Tag auch wieder gut. Normalerweise kann sich sowas über Tage hinwegziehen.
Ab Montag dann beschließe ich wegen der neuen Situation eine Arbeit als Sanitäter zu finden. Es werden dringend Leute gesucht, da es immer mehr Kranke und Verletzte im Land gibt und das Gesundheitssystem stark überlastet. Ich klappere alle Krankenhäuser und Lazarette in der Region ab. Alle freuen sich sehr über mein Hilfsangebot. Ich soll gleich morgen anfangen zu arbeiten. Ich soll bloß meine Nummer hinterlegen und dann wird man sich bei mir melden. Das erlebe ich immer wieder. Was ich dann auch erfahre ist, dass es gerade in der aktuellen Lage schwierig ist, einen Ausländer einzustellen und dafür ohne ukrainische Papiere viele Formalitäten erledigt werden müssen. Daran scheint es überall zu schreiten, denn alle Optionen verlaufen nach Tagen immer im Sand. Das frustriert mich.
Selbst in dem neuen Lazarett, welches geheim in dem Luftschutzbunker eines Einkaufszentrums errichtet wurde, ist das so. Ich bin fasziniert, wie man ein Krankenhaus in einem Bunker aus dem Nichts aufbauen kann und sogar OP Räume in Spezialzelten einrichten kann. Eine richtige Klinik und keiner hat eine Chance, das von außen zu erkennen. Keiner der dort in einem Geschäft arbeitet oder einkauft, ahnt, was sich unterirdisch abspielt. Dort wird dringend jemand mit IT Erfahrung gesucht. Man freut sich ein Loch in den Bauch, dass ich mich freiwillig dafür melde, doch auch dort werden die Formalien zum Hindernis.
Heute früh habe ich mich dann dazu entschieden auf eigene Faust wann anderer Stelle im Land nach Arbeit zu suchen. Das Warten, während so viel Leid um mich herum geschieht, wird für mich zur Qual.
Ich fahre los, ohne Ziel, in Richtung Osten. Nach 250km steht eine Frau am Straßenrand mit einem Schild auf dem Kiew steht. Sie scheint dort schon lange in der Kälte zu stehen und auf eine Mitfahrgelegenheit zu warten. Ich fasse mir ein Herz und halte an. Freudig steigt sie in mein Auto und erzählt mir, dass sie Larissa heißt, 50 Jahre alt ist und in Kiew als Krankenschwester helfen will. Sie spricht sogar etwas Deutsch, ein Wunder und sehr angenehm, mal wieder mit jemandem in meiner Muttersprache reden zu können. Nach hundert Kilometer wird sie ganz nervös. Sie will mir erklären, das ich wo anders fahren soll. In die völlig falsche Richtung. Ich verstehe nicht wieso. An einem Checkpoint springt sie dann aus meinem Wagen. Ich denke sie hat vielleicht Dreck am stecken und flüchtet jetzt ohne ihre Tasche vor den Soldaten am Checkpoint. Als ich mit der Kontrolle dran bin, steigt sie wieder ein und klärt alles in einem ruhigen Ton mit den Soldaten. Hinterher bleibe ich an einer Raststätte stehen und kläre alles mit dem Übersetzer.
Sie hatte Angst, dass Google Maps uns in den Tod führen würde, denn die Route ging in die russischen Gebiete. Dann zeigt sie auf ein Auto und sagt: Fahr hinterher!
Wiederwillig tue ich, was sie sagt. Später merke ich, dass wir den einzig sicheren Weg nach Kiew fahren, den ich ohne Larissa so nie gefunden hätte. 150km vor Kiew müssen wir bei einem Checkpoint stehen bleiben und bis morgen früh mit der Weiterfahrt warten. In der Nacht darf aus Sicherheitsgründen niemand fahren.
Wir haben am Abend noch ein langes Gespräch. Larissa erzählt mir viel aus ihrem Leben und gibt mir wertvolle Informationen, wie ich mich in Kiew verhalten soll. Wir erfahren von einem Bombenangriff, auf dem Weg, den mich mein Handy geleitet hätte.
Larissa deutet mit dem Finger nach oben und sagt: „Dass ist Gott! Ohne dich stünde ich jetzt immernoch da. Und ohne mich wärst du in die Arme der Russen gefahren. Das wir uns genau im richtigen Moment am richtigen Ort begegnet sind, ist kein Zufall. Bei Gott gibt es keine Zufälle.“
Mich ergreifen ihre Worte. Larissa ist für mich ein Engel, der mich auf den richtigen Weg geführt hat. Wir umarmen uns und versuchen jetzt in meinem kleinen roten Auto bei eisiger Kälte Schlaf zu finden.
Morgen früh geht es nach Kiew.
Gute Nacht meine Freunde in Deutschland!
David :)